Die Sprache(n) der Politik

Nils Ringe, der Professor für Politikwissenschaften und Direktor des Jean Monnet EU Centers of Excellence for Comparative Populism an der University of Wisconsin-Madison ist, gibt Einblicke in seine Forschung zur Mehrsprachigkeit in der EU. Obwohl die Mehrsprachigkeit und verschiedene Muttersprachen schon lange im Alltag der internationalen Organisationen oder auch mehrsprachiger Staaten angekommen sind, wissen wir erstaunlich wenig darüber, wie sich die Mehrsprachigkeit auf Politikgestaltung und politische Entscheidungsfindungen auswirkt. Was passiert mit politischen Dynamiken und Entscheidungsprozessen, wenn Politiker*innen auf Sprachdienste und Dolmetscher*innen angewiesen sind oder eine Sprache nur als Fremdsprache beherrschen?

Mehrsprachigkeit ist ein wichtiges Merkmal zahlreicher politischer Umfelder weltweit sowohl von mehrsprachigen Staaten wie Indien, Kanada und Belgien als auch von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, dem Internationalen Währungsfonds und der Afrikanischen Union. Zudem werden in einer globalisierten Welt immer mehr wichtige politische Entscheidungen zwischen Politiker*innen ausgehandelt, die keine gemeinsame Muttersprache teilen. Wir wissen jedoch erstaunlich wenig darüber, wie sich die Mehrsprachigkeit auf Politikgestaltung und politische Entscheidungsfindungen auswirkt.

Die Sprache(n) der Politik

Wie die Mehrsprachigkeit die Politikgestaltung in der Europäischen Union beeinflusst

Autor

Nils Ringe ist Professor für Politikwissenschaften und Direktor des Jean Monnet EU Centers of Excellence for Comparative Populism an der University of Wisconsin-Madison. Er forscht und lehrt über die Europäische Union, Gesetzgebung, Wahlen, Parteien, Populismus, und politische Netzwerke. Seine neuesten Publikationen sind The Language(s) of Politics: Multilingual Policy-Making in the European Union (University of Michigan Press 2022) und Populists and the Pandemic: How Populists Around the World Responded to Covid-19 (Routledge, forthcoming August 2022, herausgegeben zusammen mit Lucio Rénno).

Mehrsprachigkeit ist ein wichtiges Merkmal zahlreicher politischer Umfelder weltweit sowohl von mehrsprachigen Staaten wie Indien, Kanada und Belgien als auch von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, dem Internationalen Währungsfonds und der Afrikanischen Union. Zudem werden in einer globalisierten Welt immer mehr wichtige politische Entscheidungen zwischen Politiker*innen ausgehandelt, die keine gemeinsame Muttersprache teilen. Wir wissen jedoch erstaunlich wenig darüber, wie sich die Mehrsprachigkeit auf Politikgestaltung und politische Entscheidungsfindungen auswirkt, obwohl die Sprache die Grundlage für jegliche(s) Zusammenspiel, Zusammenarbeit, Auseinandersetzung, Beratung, Einflussnahme, Verhandlung und Vereinbarung zwischen politischen Akteur*innen bildet.

In meinem neuen Buch (als Open Access Publikation hier kostenlos erhältlich) untersuche ich am Beispiel der Europäischen Union (EU), wie sich die Verwendung von Fremdsprachen durch Politiker*innen und deren Nutzung von Sprachendiensten (insbesondere der Simultanverdolmetschung mündlicher Verhandlungen und der Übersetzung schriftlicher Texte) auf politische Dynamiken und Entscheidungsprozesse auswirkt. Ausführliche Interviews mit fast 100 politischen Entscheidungsträger*innen und Sprachdienstleister*innen in den wichtigsten EU-Institutionen zeigen – gemeinsam mit quantitativen und linguistischen Daten –, dass die Mehrsprachigkeit eine Grundeigenschaft des Politikbetriebs der EU und allgegenwärtig ist. Sie beeinflusst nicht nur die politische Zusammenarbeit in der Praxis, sie prägt auch das Wesen der EU-Politik auf ebenso nuancierte wie tiefgreifende Weise.

Die Amtssprachen der Anfang der 1950er Jahre gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, dem ersten Vorläufer der heutigen EU, waren Deutsch, Französisch, Italienisch und Niederländisch. Im Laufe der Zeit kamen mit jeder Erweiterung der Mitgliedschaft weitere Sprachen dazu: Dänisch, Englisch (1973); Griechisch (1981); Portugiesisch, Spanisch (1986); Finnisch, Schwedisch (1995); Estländisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Polnisch, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch, Ungarisch (2004); Bulgarisch, Rumänisch, Irisch (2007); und Kroatisch (2013). Für diese Vielzahl von Amtssprachen gibt es bedeutende symbolische, repräsentative und rechtliche Gründe. Erstens ermöglicht die Mehrsprachigkeit den einzelnen Sprachen, ihre Stellung als ein Kennzeichen nationaler Identität zu erhalten und gleichzeitig das Fundament für eine gemeinsame politische Gemeinschaft zu legen. Zweitens bildet die Mehrsprachigkeit eine Grundlage für die repräsentative Demokratie und somit auch für die demokratische Legitimität der EU, denn sie gewährt EU-Bürger*innen einen Anspruch auf Informationen in der Amtssprache ihrer Wahl. Dies gibt ihnen die Möglichkeit, sich das nötige Wissen anzueignen, um zu verstehen, wie Entscheidungen beraten, ausgehandelt und getroffen werden; um sich über den Inhalt und die Folgen der Gesetze und Vorschriften zu informieren, denen sie unterliegen; und um am Wahltag die Arbeit der von ihnen gewählten Vertreter*innen rückblickend zu bewerten. Drittens wäre es aus rechtlicher Sicht höchst problematisch, wenn EU-Bürger*innen gezwungen wären, einer Fremdsprache mächtig zu sein, um die ihnen durch die EU zugestandenen Rechte zu verstehen und sich darauf berufen zu können.

Darüber hinaus ist die Mehrsprachigkeit auch aus praktischer Sicht erforderlich, da sie Volksvertreter*innen erlaubt, sich in ihrer eigenen Sprache auszudrücken. Viele sprechen zwar gutes Englisch – die in der EU und unter EU-Akteur*innen gängigste Fremdsprache – haben aber in formellen Sitzungen dennoch die Möglichkeit, auf die Verdolmetschung und somit auf ihre Muttersprache zurückzugreifen. Diese Kombination funktioniert meinen Gesprächspartner*innen nach ausgesprochen gut: Zwar gibt es natürlicherweise Beispiele für Missverständnisse und Fehlkommunikation, aber wenig Hinweise auf ernsthafte systematische oder systemische Probleme. “Es klappt, und manchmal ist es ein Wunder, dass es klappt”, wie mir in einem Interview im Europaparlament gesagt wurde.

Doch ist die Mehrsprachigkeit nicht folgenlos und die wichtigste Schlussfolgerung des Buches ist, dass sie Entscheidungsfindungsprozesse in der EU depolitisiert, indem sie ihre politische Beschaffenheit abschwächt und Konfliktpotenziale verringert. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil man eher erwarten würde, dass die Mehrsprachigkeit die EU-Politik konfliktreicher gestaltet. Schließlich ist Sprache an und für sich emotionsgeladen, und sprachliche Heterogenität wird im Allgemeinen als Triebfeder politischer Spaltung und sozialen Unfriedens angesehen. Außerdem können Sprachbarrieren zu Missverständnissen, Verwirrung und Spannungen zwischen politischen Akteur*innen führen. Doch sowohl der Gebrauch von Fremdsprachen als auch der Rückgriff auf Sprachendienste führt zu einer Vereinfachung, Vereinheitlichung und Neutralisierung der “Sprache(n) der Politik” in der EU – und damit zu ihrer Depolitisierung.

Kommunikation in einer Fremdsprache ist, aus drei Gründen, tendenziell einfach, zweckmäßig und standardisiert. Erstens können sich EU-Akteur*innen in einer Fremdsprache nicht mit der gleichen Gewandtheit ausdrücken wie in ihrer Muttersprache. Ihr Wortschatz, ihre Grammatik und ihr Satzbau sind einfacher; ihre Möglichkeiten, sich idiomatisch und rhetorisch geschickt auszudrücken, begrenzt. Zudem verlassen sie sich auf allgemein gängige Wörter, Formulierungen und andere sprachliche Konstruktionen. Zweitens wissen EU-Akteur*innen, dass sie sich auch gegenüber Personen mit geringeren Sprachkenntnissen verständlich machen müssen, weshalb selbst Sprachbegabte sich vergleichsweise einfach versuchen auszudrücken. Drittens sehen EU-Akteur*innen die Notwendigkeit der Übersetzung in andere Sprachen voraus, die sie erleichtern, indem sie auf einfache Sprachwendungen und allgemein akzeptierte Ausdrücke und Formulierungen zurückgreifen: Sie “sprechen für die Verdolmetschung” und “schreiben für die Übersetzung”.

Es ist wichtig hervorzuheben, dass diese Auswirkungen nicht das Ergebnis eines gezielten Versuchs der EU sind, die Entscheidungsfindung zu depolitisieren. Es ist ganz einfach das, was passiert, wenn die Menschen auf Fremdsprachen und Sprachendienste angewiesen sind. Diese Realität stellt die Notwendigkeit einer effektiven Kommunikation zwischen Nicht-Muttersprachler*innen in den Mittelpunkt und den praktischen, kommunikativen Aspekt der Sprache über den politischen oder ideologischen: Es geht vor allem um das Vermitteln der Kernbotschaft. Infolgedessen wird die Sprache nicht im gleichen Maße wie in einem monolingualen Kontext als Mittel zur Verfolgung und Durchsetzung politischer Ziele eingesetzt. Die Dominanz eines speziellen und weit verbreiteten “EU-Englischs” verstärkt diesen Effekt noch einmal. Diese gemeinschaftliche (Fremd-)Sprache ist im Vergleich zum Standard-Englisch neutral, pragmatisch, anwendungsorientiert, vereinheitlichend, de-kultiviert und de-ideologisiert, weshalb das, was EU-Akteur*innen sagen oder schreiben, weniger Aufschluss auf ihre nationalen und politischen Werdegänge, Prioritäten und Präferenzen gibt. Zudem neigen sie dazu, ideologisch geprägte Begriffe wie “Austerität” oder “illegale Einwanderer” zu ignorieren oder nicht als solche wahrzunehmen, da es “unmöglich ist, alle möglichen Konnotationen in allen möglichen Sprachen zu berücksichtigen” und man Nicht-Muttersprachler*innen “einen Vertrauensvorschuss” gibt, wir mir zwei Gesprächspartner*innen erklärten. Politisierte, ideologische oder parteiische Sprache wird so neutralisiert.

Auch die Sprachendienste der EU vereinfachen, vereinheitlichen und neutralisieren die Sprache, denn Übersetzungs- und Verdolmetschungsverfahren sind von Natur aus so komplex und anspruchsvoll, dass selbst die Besten ihrer Zunft das Gesagte oder Geschriebene unvermeidlich verändern. Zudem stützen sich die Übersetzer*innen schriftlicher Texte weitgehend auf bestehende Dokumente, gemeinsame Terminologiedatenbanken und allgemein akzeptierte und weit verbreitete Formulierungen, anstatt ihre Übersetzungen “kreativ” anzugehen. Dies geschieht aus gutem Grund, denn alle Sprachfassungen des EU-Rechts sind gleichermaßen rechtsgültig und verbindlich, was voraussetzt, dass EU-Rechtsvorschriften so abgefasst und übersetzt werden, dass sie in allen Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Diese Gleichstellung ist am einfachsten zu gewährleisten, indem sich Übersetzer*innen auf Ausdrücke und Formulierungen stützen, die bereits in bestehenden Dokumenten verankert sind. Der Übersetzungsprozess führt somit zu einer Vereinheitlichung der Zielsprache. Zudem lässt das Prinzip der gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen wenig Raum für Zweideutigkeiten im Ausgangstext, was zu einer weiteren Depolitisierung führt. Denn es schränkt die Möglichkeit von Politiker*innen ein, bei der Ausarbeitung von Gesetzen bewusst vage Formulierungen zu verwenden, und nimmt ihnen somit ein beliebtes Hilfsmittel zur Verwirklichung politischer Vereinbarungen. Für Simultandolmetscher*innen besteht die größte Herausforderung darin, dass sie – präzise und unverzüglich – nicht nur den Inhalt und Sinn des Gesagten, sondern auch die Persönlichkeit und Emotionen des Redners wiedergeben müssen. Diese ohnehin schon knifflige Aufgabe wird zudem erschwert durch oft sehr schnelles Reden und das breite Spektrum der behandelten, häufig hochtechnischen Themen. Auch die Verdolmetschung zieht dadurch zwangsläufig eine Vereinfachung und Vereinheitlichung des Gesagten nach sich.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Mehrsprachigkeit eine Sprache der EU-Politik nach sich zieht, die tendenziell einfach, anwendungsorientiert, standardisiert, neutral, de-kultiviert und de-ideologisiert sind. Dies wirkt sich sowohl auf soziale und politische Hierarchien innerhalb der EU-Institutionen als auch auf die politische Kultur der EU aus, weil es die Relevanz von Politikfragen, die Wahrnehmung politischer Unterschiede, die Polarisierung von Standpunkten, die Intensität der Debatte und die Resonanz von Argumenten beeinflusst. Insgesamt werden dadurch der Prozess und die Qualität der politischen Entscheidungsfindung reflektierter und rationaler – was jedoch nicht bedeutet, dass alle politischen Differenzen und Auseinandersetzungen abgeschwächt oder hinfällig sind. EU-Akteur*innen haben unterschiedliche ideologische, parteipolitische und nationale Präferenzen, und diese Unterschiede verschwinden auch in einem mehrsprachigen Umfeld nicht. Es ergibt sich jedoch eine andere politische Dynamik, wenn die Sprache in erster Linie zur Kommunikation und nicht als politisches Instrument dient; wenn politische Entscheidungen in einer insgesamt weniger politischen und streitbaren Sprache erwogen, beraten, ausgehandelt und vereinbart werden; wenn Entscheidungsträger weniger unterscheidbar sind durch das, was sie sagen oder schreiben; und wenn ihre Redeweise weniger auf bestimmte parteipolitische und nationale Präferenzen, Prioritäten und Ziele hinweist.

Während ein im höheren Maße reflektierter und rationaler politischer Entscheidungsprozess eine vorteilhafte Folge der EU-Mehrsprachigkeit sein mag, sind andere Folgen weniger wünschenswert. Zunächst einmal könnten umstrittene politische Themen übermäßig depolitisiert werden, was aus Sicht der demokratischen Repräsentation kritisch zu betrachten ist. Darüber hinaus ist eine depolitisierte Sprache der Politik problematisch für die EU als Gemeinwesen und als politisches Projekt, da ihr funktionaler und übermäßig rationalisierter Charakter von der breiten Öffentlichkeit wahrscheinlich eher als fade, abstrakt und distanziert wahrgenommen wird. Dies untergräbt die Qualität der Repräsentation, schwächt die Bindung der EU zu ihren Bürger*innen und steht im Widerspruch zur zunehmenden öffentlichen Politisierung der EU als politisches Projekt.

Zitationshinweis:

Ringe, Nils (2022): Die Sprache(n) der Politik, Wie die Mehrsprachigkeit die Politikgestaltung in der Europäischen Union beeinflusst, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/die-sprachen-der-politik/

This work by Nils Ringe is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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