Zur Europawahl – Entwicklungslinien der Europäischen Union und deren Legislative

Im Juni wählen die Bürgerinnen und Bürger aller EU-Mitgliedsstaaten Abgeordnete ins Europäische Parlament (EP). Welche Aufgaben hat das EP und wie ist die Entwicklung verlaufen? PD Dr. Markus Reiners, der an der Leibniz Universität Hannover lehrt und forscht, fasst die Entwicklung der EU zusammen und gibt einen Überblick über die gesetzgebenden Institutionen der EU, von denen das Europäische Parlament neben dem Ministerrat einen Teil ausmacht.

Das Europäische Parlament wird am 9. Juni 2024 neu gewählt. Der Beitrag leistet daher einen kurzen Überblick über die Genese und Entwicklungslinien der Europäischen Union (EU), deren Vorläuferorganisationen sowie deren Legislative. Zunächst ist die Europäische Gemeinschaft (EG) von Bedeutung. Sie ist das Ergebnis des am 1. Juli 1967 erfolgten Zusammenschlusses der Organe der ehemals selbstständigen Gemeinschaften.

Zur Europawahl – Entwicklungslinien der Europäischen Union und deren Legislative

Autor

PD Dr. phil. habil. Markus Reiners ist Privatdozent für Politikwissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Er lehrt und forscht u.a. im Bereich Politischer Institutionen.

Gründung und Entwicklungslinien der Europäischen Union

Das Europäische Parlament wird am 9. Juni 2024 neu gewählt. Der Beitrag leistet daher einen kurzen Überblick über die Genese und Entwicklungslinien der Europäischen Union (EU), deren Vorläuferorganisationen sowie deren Legislative. Zunächst ist die Europäische Gemeinschaft (EG) von Bedeutung. Sie ist das Ergebnis des am 1. Juli 1967 erfolgten Zusammenschlusses der Organe der ehemals selbstständigen Gemeinschaften, einerseits bestehend aus der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die sogenannte Montanunion, gegründet am 18. April 1951. Deren Mitglieder Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande hatten das Ziel, die Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Kohle und Stahl zu fördern und die Kontrolle durch eine unabhängige Behörde auszuüben. Andererseits ist die Europäische Atomgemeinschaft zu nennen, die sogenannte Euratom, gegründet am 25. März 1957. Die Mitglieder sind dieselben wie zuvor, mit dem Ziel einer friedlichen Nutzung und Verwendung der Atomenergie. Als drittes Organ ist schließlich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zentral. Sie wurde ebenfalls am 25. März 1957 gegründet. Die Mitglieder sind ebenfalls dieselben. Ziel war die Errichtung eines gemeinsamen Marktes nach dem EWG-Vertrag (Reiners 2023: 378ff.).

Die EG war letztlich eine supranationale Organisation, die mit dem Maastrichter Vertrag von 1993 aus den Vorgängerinstitutionen hervorging und rechtlich bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 bestand hatte. Sie war als eine der drei Europäischen Gemeinschaften (EWG, Montanunion und Euratom) Teil der drei Säulen der EU. Der Rechtskörper der EG war damit Kernstück der EU. Bereits vor Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags hatte die Bezeichnung Europäische Union in der Umgangssprache die Europäische Gemeinschaft ersetzt, jedoch blieben EU und EG juristisch unterschiedliche Institutionen. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 wurde die Existenz der EG beendet. Ihre Rechtsnachfolgerin wurde die EU, die durch den Vertrag die Rechtspersönlichkeit erhielt. Im Ergebnis kann man diagnostizieren, dass die früheren selbstständigen Gemeinschaften (Montanunion, Euratom, EWG) durch ihren Zusammenschluss ab 1. Juli 1967 die EG und ab 1. November 1993 die EU gebildet haben, mit ihren drei Hauptorganen Europäisches Parlament, Ministerrat und Europäische Kommission (vgl. Reiners 2023; Wessels 2008; Hartmann 2009; Weidenfeld 2013; Wehr 2015; Rüttgers/Decker 2017).

Mitglieder der Europäischen Union

Der EU gehören mit Stand 1. Mai 2024 nachfolgende 27 Mitglieder an. Ab dem Jahr 1957 sind sechs Gründungsmitglieder zu verzeichnen, Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. 1973 kamen Großbritannien, Irland und Dänemark hinzu. 1981 kamen Griechenland, 1986 Spanien und Portugal hinzu sowie 1995 Finnland, Schweden und Österreich. Ab dem Jahr 2004 kam es zu einer größeren Eintrittswelle von Staaten aus Zentral- und Osteuropa. Noch einige Jahre zuvor hätte es niemand für möglich gehalten, dass sich zentralwirtschaftliche Länder in die westeuropäische Gemeinschaft integrieren könnten. Die EU nahm sodann im Jahr 2004 und 2007 zwölf neue Mitglieder auf, darunter zehn ehemals sozialistisch oder kommunistisch geprägte Staaten, Bulgarien und Rumänien (2007), Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn. Diese zehn Länder haben in relativ kurzer Zeit ihr Staatssystem diametral verändert und die Bedingungen und Standards der EU insoweit erfüllen können. Bei den zwölf Staaten sind auch Zypern und Malta (2004) enthalten. Ferner kam später im Jahr 2013 noch Kroatien hinzu. Das Vereinigte Königreich ist bekanntermaßen am 31. Januar 2020 um 24 Uhr (MEZ) ausgetreten (Reiners 2023: 379; Reiners 2013: 780ff.; vgl. Balázs 1993; Berend 2005: 401ff.; Blokker 2005: 503; Gabriel 2008: 11; Ismayr 2010: 9; Cianciara 2019; Damian 2019; Ahrens/Zweynert 2012; Kasekamp/Treichel 2013; Deimel 2020; Lippert 2020; De Munter 2023).

Mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien am 1. Januar 2007 war die EU-Erweiterung zunächst abgeschlossen. Nach Aussage vom ehemaligen Kommissionspräsidenten Barroso können weitere Mitglieder erst nach einer Lösung der Verfassungsfrage aufgenommen werden. Im Juni 2011 empfahl die Europäische Kommission jedoch dem Rat jedoch Kroatien aufzunehmen. Beim EU-Gipfel im Dezember 2011 wurde der 1. Juli 2013 als Beitrittsdatum für Kroatien festgelegt. Kroatien ist daher momentan das jüngste Mitglied (Reiners 2023: 379; vgl. Zielonka 2006; Jureit/Tietze 2015).

Beitrittskandidaten

Unter den derzeitigen Beitrittskandidaten ist die Türkei das Land, das sich schon am längsten um eine Mitgliedschaft bemüht. Vertragliche Beziehungen zwischen der Türkei und der EU bestehen schon seit Jahrzehnten, denn das Land ist ein wichtiger Partner der EU, in den vergangenen Jahren insbesondere auch aufgrund der Zusammenarbeit im Zuge des EU-Türkei-Migrationspaktes. Bereits 1963 unterzeichnete die Türkei mit der damaligen EWG das Assoziierungsabkommen von Ankara. Die im Rahmen dieses Abkommens im Jahr 1995 errichtete Zollunion ist sowohl für die EU als auch für die Türkei mit wirtschaftlichen Vorteilen verbunden. Ein möglicher EU-Beitritt der Türkei war letztlich schon seit 1983 in der politischen Diskussion, ein offizielles Beitrittsgesuch bei der EU hat die Türkei schließlich im Jahr 1987 eingereicht. 1999 wurde dem Land der Status eines Beitrittskandidaten verliehen. Die Beitrittsverhandlungen begannen sodann im Jahr 2005. Diese wurden jedoch aufgrund der unbefriedigenden Situation von Rechtsstaatlichkeit, fortwährenden Menschenrechtsverletzungen und der Zypernproblematik vor einigen Jahren eingefroren. Die Aussichten auf einen EU-Beitritt stehen somit seit längerem schlecht. Es gilt vielmehr als unwahrscheinlich, dass die Türkei eine Vollmitgliedschaft erlangen wird. Zum Jahresende 2004 hatte die Türkei die Kriterien in den Bereichen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Schutz von Minderheiten zwar formal erfüllt, was jedoch faktisch in Abrede zu stellen ist. Ferner waren die von der EU-Kommission geforderten gesetzlichen Voraussetzungen wie Strafgesetzbuch, Strafprozessordnung, Vereinsgesetz und die Gesetze zum Aufbau einer Kriminalpolizei sowie zur Bildung von Berufungsgerichten nicht geschaffen. Aufgrund der Entwicklungen kann man sicherlich mit einer langen Verhandlungsdauer rechnen. Die EU-Kommission wird weiterhin regelmäßige Berichte über den Reformprozess in der Türkei vorlegen und dabei auf alle ihrerseits aufgezeigten Problembereiche eingehen. Durch die jüngeren Weiterentwicklungen in der Türkei unter Präsident Erdoğan veröffentlichte die EU-Kommission am 10. November 2015 überdies einen kritischen Jahresbericht. Das EU-Parlament sprach sich am 24. November 2016 letztlich für ein Einfrieren der Beitrittsgespräche aus. Die Empfehlung ist für die EU-Kommission allerdings nicht bindend. Im Zuge des NATO-Gipfels 2023 scheint wieder eine Annäherung möglich. Präsident Erdoğan signalisierte, seine Zustimmung zum NA­TO-Beitritt Schwedens zu erteilen, sofern die EU der Türkei den Weg in die EU ebne. EU-Ratspräsident Michel sicherte zu, nach Möglichkeiten zu suchen, die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zu revitalisieren (Reiners 2023: 379f.; LpB Baden-Württemberg 2024).

Im Dezember 2005 wurde Nordmazedonien der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt. Die Verhandlungen begannen allerdings erst im Jahr 2022. Island beantragte die EU-Mitgliedschaft im Juli 2009. Der Kandidatenstatus wurde im Juni 2010 zugesprochen. Montenegro wurde im Dezember 2010 ebenfalls zum offiziellen Kandidaten ernannt. Albanien und Serbien reichten 2009 ihre Beitrittsanträge ein. Serbien wurde im März 2012 und Albanien im Juni 2014 formal als Beitrittskandidat anerkannt. Ein weiteres potenzielles Bewerberland ist Bosnien und Herzegowina, das im Februar 2016 formell den Beitritt beantragte. Am 28. Februar 2022 stellte die Ukraine ein Beitrittsgesuch, im März folgten Georgien und Moldau. Moldau und die Ukraine wurde im Juni 2022 der Status von Beitrittskandidaten zugesprochen (Reiners 2023: 380).

Brexit: EU-Austritt des Vereinigten Königreiches

Die jüngeren Entwicklungen haben die Zahl der EU-Mitglieder von 28 auf 27 schrumpfen lassen. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, meist als Brexit bezeichnet, ist längst beschlossen. Die Umsetzung wurde seit dem EU-Mitgliedschaftsreferendum im Vereinigten Königreich am 23. Juni 2016 vorbereitet. Der Brexit könnte das Vereinigte Königreich langfristig durchaus wirtschaftlich treffen. Es ist allerdings zudem abzusehen, dass der Austritt des ehemaligen Nettozahlers Vereinigtes Königreich längerfristig sicherlich auch signifikante Auswirkungen auf die EU haben wird. Deutschland und andere mit dem Vereinigten Königreich stärker verflochtene Länder in der Union würden demzufolge ebenfalls ökonomische Einbußen verzeichnen.

Bei dem genannten Referendum hatten sich 51,89 Prozent der Teilnehmer für einen Austritt aus der EU ausgesprochen. Die damalige Premierministerin May leitete in der Folge den Austrittsprozess am 29. März 2017 rechtlich wirksam in die Wege. Da zugleich keine konkrete Vereinbarung zum Austrittstermin getroffen wurde, wäre dieser nach Ablauf der zwei Jahre währenden Verhandlungen auf den 29. März 2019 gefallen. Der Austrittstermin wurde jedoch seither mehrmals verschoben. May stellte im Januar 2017 in einer Grundsatzrede einen Zwölf-Punkte-Plan vor, der einen „harten Brexit“ ohne EU-Teilmitgliedschaft oder assoziierte Mitgliedschaft vorsah. Das Vereinigte Königreich sollte demnach aus dem europäischen Binnenmarkt, der Zollunion und aus der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs ausscheiden.

Am 14. November 2018 einigten sich die EU und die Regierung des Vereinigten Königreichs auf ein entsprechendes Austrittsabkommen. Über dieses sollte ursprünglich am 11. Dezember 2018 im britischen Unterhaus abgestimmt werden. Die Abstimmung wurde allerdings aufgrund von innenpolitischen Widerständen verschoben. Zunächst wurden weitere wichtige Nachverhandlungen durchgeführt. Besonders umstritten war dabei die sogenannte Backstop-Klausel, welche eine harte Gren­ze zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich in jedem Fall verhindern sollte. Bei drei Abstimmungen am 15. Januar 2019 sowie am 12. und 29. März 2019 stimmte das Parlament jeweils mit großer Mehrheit gegen das Abkommen, wodurch ein ungeregelter Austritt ohne Abkommen die rechtliche Folge gewesen wäre.

Am 21. März 2019 einigten sich deshalb der Europäische Rat und die britische Regierung auf eine Verschiebung des Austrittstermins auf frühestens den 12. April 2019. Im Fall einer Ratifizierung des mit der EU ausgehandelten Austrittsabkommens sollte das Vereinigte Königreich hingegen erst am 22. Mai 2019 austreten. Da auch kurz vor Ablauf dieser Frist weiterhin der ungeregelte Austritt des Vereinigten Königreichs bevorstand, beantragte die Regierung mit Unterstützung des Unterhauses eine erneute Fristverlängerung. Bei einem EU-Sondergipfel am 10. April 2019 stimmte der Europäische Rat dem zu und vereinbarte als Austrittsdatum spätestens den 31. Oktober 2019. In der weiteren Folge scheiterten die von May initiierten Gespräche zwischen der Regierung und der Labour-Opposition. Großbritannien musste aufgrund der erneuten Verschiebung des Austrittstermins an der Europawahl teilnehmen. Bei dieser Wahl erhielt die erst 2019 gegründete Brexit-Partei auf Anhieb 30,5 Prozent der Stimmen und zog als Wahlsieger mit 29 Sitzen ins EU-Parlament ein.

Nach der Europawahl kündigte Theresa May für den 7. Juni 2019 ihren Rücktritt als Parteichefin der Konservativen Partei an. In der weiteren Folge wurde Johnson am 24. Juli 2019 neuer Premierminister und versprach, den Brexit am 31. Oktober 2019 zu vollziehen, und zwar unter allen Umständen (do or die). Das Parlament verabschiedete jedoch am 9. September 2019 ein Gesetz, das die britische Regierung dazu verpflichtet hat, bei der EU erneut eine Verschiebung des Austritts über den 31. Oktober 2019 hinaus zu beantragen, sofern bis zu diesem Datum kein Austrittsabkommen mit der EU verabschiedet wäre.

Am 17. Oktober 2019 einigte sich die britische Regierung mit der EU auf ein erneut nachverhandeltes Abkommen. Da das Unterhaus die Abstimmung am 19. Oktober 2019 jedoch vertagte, war Johnson gezwungen, eine neuerliche Verschiebung des Austrittsdatums auf den 31. Januar 2020 zu beantragen. Der Europäische Rat entschied am 28. Oktober 2019, die Verschiebung zu bewilligen. Am 29. Oktober 2019 stimmte das britische Unterhaus mit großer Mehrheit für Neuwahlen am 12. Dezember 2019, bei der die Konservativen die absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus errangen. Im Januar 2020 stimmten das britische Parlament und das EU-Parlament dem Brexit-Abkommen zu, mit dem das Vereinigte Königreich am 31. Januar 2020 aus der EU austrat.

Zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wurde in der weiteren Folge ein Handels- und Kooperationsabkommen geschlossen, das in vielfältigen Bereichen eine Zusammenarbeit und Teilnahme an Unionsprogrammen vorsieht. Auch wenn nicht das vormalige Maß der wirtschaftlichen Verflechtung erreicht wird, geht das Abkommen dennoch über traditionelle Freihandelsabkommen hinaus und bildet eine solide Grundlage für die weitere Zusammenarbeit. Das Abkommen wurde am 30. Dezember 2020 unterzeichnet. Es wurde ab Januar 2021 vorläufig angewandt und trat am 1. Mai 2021 endgültig in Kraft (insgesamt hierzu Rudolph 2019; Schade 2021; Reiners 2023: 380ff).

Legislative der Europäischen Union

Ministerrat

Blickt man auf die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, so ist zunächst der Ministerrat (auch Rat der EU) zu nennen. Dieser besteht aus je einem Mitglied jedes Mitgliedstaates auf Ministerebene, in der Regel aus den für die zu beratenden Fragen zuständigen Ministerinnen und Ministern. Den Vorsitz führen die Mitgliedstaaten in einer vom Rat einstimmig beschlossenen Reihenfolge nacheinander für je sechs Monate, wobei jeweils drei aufeinanderfolgende Staaten in einer sogenannten Dreier-Präsidentschaft zusammenarbeiten. Der Ministerrat wird von einem Generalsekretariat unterstützt. Jeder Mitgliedstaat unterhält in Brüssel eine „Ständige Vertretung“ bei der EU. Der „Ausschuss der Ständigen Vertreter“ (in der Regel Diplomatinnen und Diplomaten im Botschafterrang) tritt wöchentlich zur Vorbereitung der Ratstagungen zusammen (Reiners 2023: 384f.; vgl. Alemann v. 2009; Lempp 2009; Ondarza 2021).

Der Ministerrat ist neben dem Europäischen Parlament eines der zwei Legislativorgane der EU, wobei der Ministerrat in Teilen auch exekutiv agiert. Er ist mit dem Parlament als Gesetzgeber tätig, übt mit diesem die Haushaltsbefugnisse aus, sorgt für die Abstimmung der Grundzüge der Wirtschafts- und Sozialpolitik, legt die Leitlinien für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) fest und schließt internationale Verträge ab. Das Gremium ist letztlich das EU-Organ, in dem die Vertreterinnen und Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten ihre Interessen geltend machen, ähnlich dem Bundesrat, durch den die deutschen Bundesländer bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirken. Die Vertreterinnen und Vertreter im Rat sind an die Weisungen ihrer Regierungen gebunden. Ferner besitzt der Rat Entscheidungs- und Rechtssetzungsbefugnis. Je nach Politikfeld ist für anstehende Entscheidungen entweder eine Einstimmigkeit oder eine qualifizierte Mehrheit notwendig, um mit den 27 Mitgliedern auch handlungsfähig zu bleiben, wobei für Mehrheitsentscheidungen das Prinzip der doppelten Mehrheit (von Staaten und Einwohnern) gilt. Je nach Einwohnerzahl des Mitgliedslandes verfügen die Staaten im Ministerrat zwischen drei und 29 Stimmen (Reiners 2023: 384f.).

Europäisches Parlament

Das Europäische Parlament ist die zweite Kammer der EU-Legislative. Es ist mit dem Ministerrat als Gesetzgeber tätig, teilt sich mit ihm die Haushaltsbefugnisse, entscheidet in letzter Instanz über den Gesamthaushalt, übt die demokratische Kontrolle über alle EU-Organe aus, einschließlich der Europäischen Kommission, und benennt deren Mitglieder. Als Legislative wirkt das Europäische Parlament mit Sitz in Straßburg (Wirkungsorte sind teilweise auch in Luxemburg und Brüssel). Es wird seit 1979 alle fünf Jahre von den Bürgerinnen und Bürgern der EU direkt gewählt. Die jüngste Wahl datiert vom 9. Juni 2024. Das EU-Parlament ist das einzige direkt gewählte Organ der EU und die einzige direkt gewählte supranationale Institution. Ursprünglich wurden lediglich Vertreter und Vertreterinnen der nationalen Parlamente (in Deutschland Bundestagsabgeordnete) ins Europäische Parlament entsandt. Das Parlament zählt insgesamt 705 Abgeordnete, auf Deutschland entfallen 96 (Reiners 2023: 385).

Ursprünglich besaß das Europäische Parlament lediglich das Recht zur Stellungnahme, musste also bei den meisten Rechtsakten nur angehört werden. Im Laufe der Entwicklung und Erweiterung der Gemeinschaft sind die Parlamentsrechte jedoch gestärkt worden. Der Vertrag von Maastricht von 1992 (in Kraft seit 1. November 1993) und der Vertrag von Amsterdam, der am 1. Mai 1999 in Kraft getreten ist, sichern dem Parlament eine formal gleichgewichtige Rolle neben Kommission und Ministerrat zu. Seit der Gründung 1952 wurden die Kompetenzen bei der Rechtsetzung demnach mehrfach erweitert, vor allem durch den Maastrichter Vertrag und zuletzt durch den Vertrag von Lissabon 2007, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist. Auch hinsichtlich der Exekutive, der Europäischen Kommission, wurden die Rechte des Parlaments sukzessive ausgebaut. Ferner fehlt im Europäischen Parlament die starre Abgrenzung zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen. Im Parlament arbeiten die Abgeordneten zwar in länderübergreifend und parteipolitisch gebildeten Fraktionen zusammen. Anders als in den meisten Parlamenten auf nationaler Ebene bilden sich dort jedoch auch wechselnde Mehrheiten. Dies bewirkt, dass die Abgeordneten etwas unabhängiger agieren und größeren Einfluss auf die EU-Gesetzgebung haben als die Abgeordneten nationaler Parlamente.

Das Europawahlgesetz1 bestimmt, dass die Wahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl erfolgt, wobei Landeslisten (für ein Bundesland wie bei der Bundestagswahl) oder eine gemeinsame Liste für alle Bundesländer aufgestellt werden können. Jede Wählerin und jeder Wähler hat eine Stimme. Bei der Europawahl 2024 wird es in Deutschland keine Sperrklausel geben. Erst bei der nächsten Europawahl 2029 soll eine Sperrklausel wiedereingeführt werden. Wahlberechtigt sind alle Deutschen (Art. 116 Abs. 2 GG) und alle Staatsangehörigen der übrigen EU-Mitgliedstaaten, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und seit mindestens drei Monaten in Deutschland oder in den übrigen EU-Mitgliedstaaten eine Wohnung haben oder sich sonst gewöhnlich aufhalten (Reiners 2023: 386).

Die wesentlichsten Befugnisse des Europäischen Parlaments lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das Parlament hat ein Mitentscheidungsrecht bei einem Großteil der europäischen Gesetze. Bei Meinungsverschiedenheiten mit dem Ministerrat wird ein Vermittlungsausschuss gebildet, ähnlich wie dem zwischen Bundestag und Bundesrat, der einen Kompromiss erarbeitet. Kann letztlich kein Einvernehmen erzielt werden, so kann das Parlament die Vorlage mit absoluter Mehrheit zu Fall bringen. Ferner hat das Parlament das Recht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Des Weiteren stimmt es dem Haushaltsentwurf zu. Das Gremium kann diesen überdies aus einem wichtigen Grund ablehnen und die Vorlage eines neuen Entwurfs verlangen. Zu den weiteren Befugnissen zählen die Benennung des Präsidenten oder der Präsidentin der EU-Kommission und die anschließende Ernennung der Kommission als Ganzes. Auch die Aufforderung zum Rücktritt der Kommission durch ein Misstrauensvotum zählt zu den Kompetenzen. Dafür ist eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen erforderlich, die allerdings der Mehrheit der Mitglieder (absolute Mehrheit) entsprechen muss. Zudem nimmt das Parlament den Bericht der Europäischen Zentralbank entgegen, die sich verpflichtet hat, dem Gremium Rechnung zu legen. Das Parlament ernennt ferner einen Bürgerbeauftragten, dem jede Unionsbürgerin und jeder Unionsbürger Beschwerden vortragen kann. Letztlich stimmt das Parlament jedem neuen Beitrittskandidaten sowie internationalen Verträgen der EU zu.

Insgesamt sind die Kontrollfunktionen des Europäischen Parlaments durch die genannten Aufgaben gegenüber der Kommission und dem Ministerrat deutlich gestärkt worden (Reiners 2023: 386f.; vgl. Kreppel 2002; Maurer/Nickel 2005; Dreischer 2006; Judge/Earnshaw 2008; Dialer/Neisser/Lichtenberger 2010; Maurer 2021).

Wie allgemein bekannt ist, haben sich die Problemlagen rund um Europa die letzten Jahre stark verschärft und kumuliert. Die Gründe liegen beispielsweise in der anhaltenden starken Migration, im Ukrainekrieg, der Sicherheitspolitik, in der Energieversorgung oder in wirtschaftspolitischen und arbeitsmarktpolitischen Fragen von Europa. Daher wird am 9. Juni 2024 bei der Europawahl mit Spannung zu beobachten sein, welche parteipolitischen Verschiebungen es aufgrund der aktuellen Entwicklungen im Europäischen Parlament geben wird, welche notwendigen Modernisierungsschritte die EU künftig angehen möchte und wohin die EU mittel- bis langfristig steuert.

Literatur

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Zitationshinweis:

Reiners, Markus (2024): Zur Europawahl – Entwicklungslinien der Europäischen Union und deren Legislative, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/zur-europawahl-entwicklungslinien-der-europaeischen-union-und-deren-legislative/

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  1. Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. März 1994 (BGBl. I S. 423, 555, 852), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 11. Januar 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 11). []

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